Gedenkveranstaltungen haben etwas Gutes. Sie erlauben uns über die Lehren der Vergangenheit nachzudenken, sie den Herausforderungen der Gegenwart gegenüber zu stellen und Nutzen für die Zukunft aus ihnen zu ziehen. Die historische Tiefe der deutsch-französischen Beziehungen zeigt sich am deutlichsten in ihrem unabdingbaren Beitrag zum Aufbau Europas. Diese historische Tiefe versetzt uns in die Lage zu erkennen, dass es falsch wäre, kleinere Meinungsunterschiede zu aktuellen Themen als eine historische Wende zu begreifen, die uns von einem „goldenen Zeitalter“ dieser Beziehung trennt.
Aber von welchem „goldenen Zeitalter“ sprechen wir überhaupt? Von der Zeit, die vom Elysée-Vertrag geprägt wurde, einem mutigen und visionären Gründungsakt in einem besonderen historischen Kontext, in einer Zeit nämlich, in der die Erinnerung an den Krieg noch sehr lebendig in den Herzen derer war, die unter diesem Krieg gelitten hatten? Trotz der fast schon sakralen Erhöhung dieses Vertrages, der die deutsch-französischen Beziehungen fest in Frieden und Fortschritt verankerte, sollten wir nicht unterschlagen, dass es auch zwischen Konrad Adenauer und Charles de Gaulle teilweise unterschiedliche Auffassungen gab. General de Gaulle erhoffte sich, dass die Größe Frankreichs und der Ehrgeiz Europas eine gewisse Distanz zu den USA schaffen würden. Bundeskanzler Adenauer war dagegen überzeugt, dass die europäischen Ambitionen Frankreichs und Deutschlands durch die transatlantischen Bindungen noch gestärkt werden würden. Durch die Überbrückung dieser Auffassungen gelang den beiden herausragenden Staatsmännern ein historischer Kompromiss.
Ähnliches gelang auch im Verhältnis zwischen Helmut Schmidt und Valéry Giscard D’Estaing, die beschlossen hatten, ihre Differenzen niemals öffentlich auszutragen. Das führte dazu, dass man den Eindruck hatte, sie seien sich in allen Fragen einig. Bei Helmut Kohl und François Mitterrand war es die tief empfundene persönliche Freundschaft, die sie in die Lage versetzte, Lösungen zu finden, die eine gemeinsame Währung und den Binnenmarkt erst möglich machten. Und gleiches gilt auch heute, wo angesichts der Krise die Liste der Übereinstimmungen doch viel größer ist als einige perzipierte Differenzen: egal ob es sich dabei um die gemeinsame Bankenaufsicht, die Beibehaltung der Integrität der Eurozone und das dauerhafte Bekenntnis zum Euro oder auch um das im Rahmen des Weimarer Dreiecks verfolgte Konzept eines „Europas der Sicherheit und Verteidigung“ handelt.
„Eine einzigartige und beispielhafte Beziehung“
In einigen Tagen werden unsere beiden Länder den 50. Geburtstag eines Vertrages feiern, der als „Elysée-Vertrag“ in die Geschichte eingegangen ist. Dieser Vertrag besiegelt das unwiderrufliche Bekenntnis von Deutschland und Frankreich zur Versöhnung und bekräftigt ihren Willen eine einzigartige und beispielhafte Beziehung zu entwickeln. Dieser Vertrag ist ohne Gleichen. Er fördert und erleichtert die Annäherung der Regierungen und der Menschen beider Länder durch eine in dieser Intensität nie dagewesene institutionelle Zusammenarbeit und durch die Einbindung der Zivilgesellschaften beider Länder in das Tagesgeschäft dieser so engen und umfassenden bilateralen Beziehungen. 50 Jahre später sind unsere Volkswirtschaften so eng miteinander verbunden wie noch nie. Gemeinsame Industrieprojekte wurden erfolgreich realisiert, mit dem deutsch-französischen Güterstand haben wir den Beginn der Annäherung unseres Zivilrechts begonnen, mit dem Kulturkanal „ARTE“ und dem gemeinsamen deutsch-französischen Geschichtsbuch ist es gelungen, die Besonderheit der deutsch-französischen Freundschaft auch für unsere Bürgerinnen und Bürger sichtbar zu machen.
Deutschland und Frankreich waren immer auch Impulsgeber für Europa insgesamt und verstanden sich als Avantgarde! Schon direkt nach dem Krieg war es vor allem Deutschland und Frankreich zu verdanken, dass die europäische Gemeinschaft als ein Raum der Freiheit und des Wohlstandes geschaffen wurde. Heute ist der Grad der Integration der Europäischen Union weltweit in einem Maße einzigartig, dass die inneren Grenzen bedeutungslos geworden sind und eine gemeinsame Währung geschaffen wurde. Deutschland und Frankreich haben auch in Zukunft eine besondere Verantwortung für die Fortentwicklung der europäischen Integration. Das Jahr 2013 wird nicht nur das Jahr der Erinnerungen sein. Der 50. Jahrestag des Elysée-Vertrags ist eine willkommene Gelegenheit, die Solidität und Dauerhaftigkeit der Freundschaft, die unsere beiden Länder verbindet, unter Beweis zu stellen. Diese Gelegenheit dürfen wir nicht verstreichen lassen. Wir wollen die deutsch-französischen Beziehungen in allen Bereichen vertiefen. Wichtigste Ziele werden dabei sein, unsere Jugend für das deutsch-französische Projekt zu begeistern, unsere kulturelle Zusammenarbeit weiterzuentwickeln und eine Politik in die Wege zu leiten, die Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit, Beschäftigung und gesellschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht. Die Kenntnis der Sprache des Partners und die Kenntnis unserer gemeinsamen Geschichte verdienen eine größere Wertschätzung. Die Schaffung einer gemeinsamen Arbeitsagentur im grenznahen Raum und die Aufstockung der Mittel für das Deutsch-Französische Jugendwerk sind weitere Beispiele für gemeinsame Initiativen, die wir ergreifen, um das Bewusstsein einer deutsch-französischen Schicksalsgemeinschaft zu stärken.
Auf Grundlage dieser gefestigten Beziehungen können wir gemeinsam die aktuellen Herausforderungen für die Zukunft Europas angehen. Die Krise des bisweilen irrationalen Finanzsektors, die Bedrohungen für unsere innere und äußere Sicherheit und der Aufstieg wichtiger, neuer globaler Akteure zwingen uns dazu, neue Werkzeuge zu schaffen, neue Politiken zu gestalten und neue Visionen zu entwickeln, um das Vertrauen der Völker in Europa zurückzugewinnen. Heute muss unser oberstes Ziel sein, die Wirtschafts- und Währungsunion zu vervollständigen und zu vollenden, indem wir eine Bankenunion schaffen und eine bessere Koordinierung der Wirtschaftspolitiken erreichen. Wir teilen die Auffassung, dass die von beiden Ländern gewünschte Wirtschafts- und Währungsunion nur auf der Basis gesunder Staatsfinanzen errichtet werden kann. Eine zu hohe Verschuldung der öffentlichen Hand würde dem entgegenstehen und den künftigen Generationen eine schwere Last aufbürden. Frankreich und Deutschland sind sich darüber bewusst, dass beide Länder aufgrund ihrer Initiativkraft besondere Verantwortung tragen. Zusammen wollen wir die Wettbewerbsfähigkeit der EU unter Wahrung sozialer Standards stärken, die Teil des europäischen Lebensmodells einer offenen, toleranten und solidarischen Gesellschaft sind.
Diese ehrgeizigen Projekte müssen mit einer Stärkung der Mechanismen für Solidarität und demokratischer Kontrolle einher gehen. Auch hier sind sich unsere beiden Länder ihrer Verpflichtungen bewusst und werden bei der Verwirklichung der politischen Union eine Vorreiterrolle spielen.
Die Stimme der EU in der Welt stärken
Zusammen wollen wir dafür sorgen, dass die Stimme der Europäischen Union in der Welt weiterhin gehört wird und Beachtung findet. Wir setzen uns dafür ein, dass Europa seinen Beitrag zur internationalen Sicherheit leistet: zur friedlichen Lösung von Konflikten, zu Fortschritten im Bereich der Menschenrechte, zur Entwicklungspolitik und zum Schutz der Umwelt. Die Entwicklung einer aktiveren Außen- und Sicherheitspolitik, auch durch eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik, wird diesen Zielen Rechnung tragen.
Bei aller Freude über das bereits Erreichte: Die deutsch-französische Freundschaft ist ein wertvolles Erbe, das wir pflegen müssen. Gerade weil die Erinnerung an die Weltkriege das Bewusstsein unserer Völker immer weniger prägt ist es heute mehr denn je notwendig, sich daran zu erinnern, was wir der deutsch-französischen Freundschaft verdanken. Wir müssen diese außergewöhnliche Freundschaft auch im Bewusstsein der jüngeren Generation fest verankern und dafür sorgen, dass sie sich auch in Zukunft weiterentwickelt.
Deutschland und Frankreich sind nicht eine Gesellschaft, die künstlich durch die Wirren der Geschichte getrennt wurde. Genauso wenig zielt das europäische Aufbauwerk darauf ab, die Unterschiede zwischen unsere Kulturen zu verwischen und unsere Kulturen zu vereinheitlichen. Ziel der EU ist es vielmehr, diese verschiedenen Identitäten zu integrieren, sie zu stärken und gleichzeitig über sie hinauszugehen, in dem wir ein gemeinsames europäisches Bewusstsein schaffen.
Auf bilateraler Ebene hat der Elysée-Vertrag dazu beigetragen, aus diesem Anspruch eine Wirklichkeit für Deutschland und Frankreich zu machen. Auf der europäischen Ebene, nimmt die EU die gleiche Herausforderung an und wird sie im Bewusstsein ihrer Völker so meistern, wie es sich die Gründerväter vorgestellt hatten: Als Werk des Friedens und des Wohlstands, der Hoffnung für die Völker Europas und unverzichtbares Projekt, um den Platz Europas in der Welt zu sichern; als die selbstverständliche Anerkennung des Anderen und der eingegangenen Schicksalsgemeinschaft.
***************************************************************************************************
Gemeinsamer Beitrag der beiden Beauftragten für die deutsch-französische Zusammenarbeit, Bernard Cazeneuve und Michael Georg Link, aus Anlass des fünfzigsten Jahrestages der Unterzeichnung des Elysée-Vertrages. Erschienen am 18.01.2013 in der Stuttgarter Zeitung und der französischen Tageszeitung „Le Figaro“
Quelle: https://www.auswaertiges-amt.de/de/newsroom/130118-d-f-beauftragte-stuttgt-ztg/253180