Jacques Delors wurde am 20. Juli 1925 in Paris geboren, wo er am 27. Dezember 2023 verstarb. Der Autodidakt ging neben seinem Studium einer beruflichen Tätigkeit (ursprünglich bei der Banque de France) und einem Engagement beim christlichen Gewerkschaftsbund (CFTC, Gruppe „Reconstruction“) nach. In den Sechziger Jahren war er einer der wichtigsten Vordenker der „zweiten Linken“ und übernahm die Leitung des Clubs „Citoyens 60“, gegründet von der personalistisch ausgeprägten Bewegung „Vie Nouvelle“.
Ab 1969 gehörte er dem Kabinett von Jacques Chaban-Delmas an. Als sozialpolitischer Berater war er mit sozialen und kulturellen, später mit wirtschaftlichen, finanzpolitischen und gesellschaftlichen Fragen befasst. 1974 trat er der Sozialistischen Partei bei.
1979-1989: Europäische Karriere und „Weißbuch“
1979 wurde er ins Europäische Parlament gewählt, wo er Vorsitzender des Ausschusses für Wirtschaft und Währung war.
1981 wurde er zum Finanzminister ernannt und bekleidete dieses Amt bis 1984. Angesichts der sich zuspitzenden Wirtschaftslage überzeugte er die französischen Sozialisten von einer Politik der Austerität und der wettbewerbsorientierten Desinflation.
Nach seinem Austritt aus der Regierung übernahm Delors von Januar 1985 bis Dezember 1994 das Amt des Präsidenten der Europäischen Kommission. Diese drei Amtszeiten waren geprägt von einer grundlegenden Neugestaltung des europäischen Aufbauwerks.
Am 14. Juni 1985 übergab Jacques Delors dem Rat den Entwurf einer Vereinbarung zur Verwirklichung des Binnenmarkts. Dieses von der Kommission präsentierte „Weißbuch“ wurde vom Rat auf der Mailänder Tagung des Europäischen Rats vom 29.-30. Juni 1985 gebilligt. In knapp 310 Maßnahmen zielte es darauf ab, den Wirtschaftsaufschwung anzukurbeln, den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital zu gewährleisten und die nationalen Märkte bis spätestens 31. Dezember 1992 zu einem Binnenmarkt zusammenzuführen (sog. „Ziel 92“). Dieser Text mündete im Februar 1986 in der Unterzeichnung der Einheitlichen Europäischen Akte.
Anschließend übernahm Jacques Delors den Vorsitz eines Ausschusses, der das Vorhaben einer Wirtschafts- und Währungsunion prüfen sollte (1988-1989). Die Arbeiten dieses sog. Delors-Ausschusses wurden später weitgehend zur Grundlage der wirtschafts- und währungspolitischen Aspekte des Vertrags von Maastricht und der Entstehung der europäischen Gemeinschaftswährung.
Ebenfalls auf Jacques Delors zurück ging der Vorschlag, dass der Ausschuss zur Prüfung der Währungsunion aus Gouverneuren der Zentralbanken bestehen solle, die über größere Unabhängigkeit von den Regierungen verfügten, anstelle der Finanzminister, die bereits den Rat Wirtschaft und Finanzen (EcoFin) der Europäischen Gemeinschaft bildeten und von denen mehrere dem Projekt feindlich gegenüberstanden. Nach heftigen Diskussionen schloss sich der Präsident der deutschen Bundesbank dem Vorhaben an, allerdings unter der Bedingung, die zukünftige Europäische Zentralbank (EZB) zu einem unabhängigen Organ zu machen.
1989: Der Delors-Plan
Der von der Kommission genehmigte Delors-Bericht wurde am 12. April 1989 vorgelegt und übernahm die Definition der Wirtschafts- und Währungsunion (WWU), die es bereits seit 1970 mit dem Werner-Plan gab.
Es wurden drei Klauseln aufgenommen:
- Die volle, irreversible Konvertierbarkeit der Währungen
- Die vollständige Liberalisierung des Kapitalverkehrs
- Die unwiderrufliche Festlegung der Wechselkurse zwischen den europäischen Währungen
Die anschließende Einführung einer Einheitswährung bot zahlreiche Vorteile, da sie durch den Wegfall der Risiken und Kosten im Zusammenhang mit dem Geldwechsel den Personenverkehr und Handel erleichterte und damit gleichzeitig Investitionen und das Wirtschaftswachstum begünstigte.
Um die WWU durch die Abstimmung der Fiskal- und Haushaltspolitiken umzusetzen, schlug der „Delors-Bericht“ eine dreistufige Währungsintegration vor:
- Die erste Stufe betraf die Verwirklichung des Binnenmarkts durch die engere Koordinierung der Wirtschafts- und Währungspolitiken und die Aufnahme aller Währungen in den Wechselkursmechanismus des Europäischen Währungssystems (EWS). In dieser Phase sollte ein Vertrag über die WWU ausgehandelt und ratifiziert werden.
- In einer zweiten Stufe ging es darum, ein Europäisches System der Zentralbanken (ESZB) einzuführen.
- In der dritten und letzten Phase sollten bestimmte wirtschaftlichen und währungspolitischen Kompetenzen auf die Gemeinschaftsorgane übertragen und Wechselkurse unwiderruflich fixiert werden, um eine einheitliche Währung einzuführen, die die nationalen Währungen ersetzen sollte.
Damit legte der Delors-Plan die erforderlichen Maßnahmen auf dem Weg zur Einführung der WWU und die damit verbundene Übertragung von Entscheidungsbefugnissen fest. Allerdings enthielt er weder ein Programm noch Fristen, da diese der politischen Entschlossenheit der Mitgliedstaaten unterlagen.
Ende der Amtszeit von Jacques Delors bei der Europäischen Kommission
Als anerkannter Verhandler gelang es Delors wiederholt, gegensätzliche Interessen der Mitgliedstaaten miteinander zu vereinbaren. So war er Initiator der Reform des Gemeinschaftshaushalts (zwei „Delors-Pakete“), der 1961 verabschiedeten Europäischen Sozialcharta sowie der Erasmus-Programme.
Der 1992 unterzeichnete Maastricht-Vertrag dehnte den Zuständigkeitsbereich der Europäischen Union gegenüber der EG wesentlich aus.
Das Weißbuch zu Wachstum, Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung (1993) wurde vom Europäischen Rat verabschiedet. Am Ende seiner Amtszeit hinterließ Jacques Delors ein grundlegend erneuertes, auf fünfzehn Staaten erweitertes Europa.
Aufgrund seines persönlichen Einflusses und seiner Aktivitäten zählte er jedoch auch danach noch zu den führenden Stimmen in der Debatte um Europa und die Wirtschaft und leitete ab 1996 den Think Tank „Notre Europe“.
Von 1995 bis 1999 war er Präsident des Europakollegs von Brügge. Ab 2000 war er Vorsitzender des französischen Rats für Beschäftigung, Einkommen und sozialen Zusammenhalt (CERC). Außerdem erhielt er Ehrendoktorwürden von 24 Universitäten in Europa, den Vereinigten Staaten und Kanada.